Institute for Advanced
Speculative Knowledge
Geldpolitik

    Der Prozeß der schöpferischen Zerstörung bedarf des neuen Geldes
    Die monetäre Bremse an der europäischen Jobmaschine 
    von
    Gerhard Maier-Rigaud, Bonn
    und
    Carl-Ludwig Holtfrerich, Berlin
     (Handelsblatt vom 04.06.98)
     
    Wenn - wie seit Jahren - die Lohnstückkosten nicht mehr steigen, ist das Ende der Fahnenstange neoklassischer Argumentation erreicht. Alle angebotspolitischen Verheißungen bleiben wirkungslos, solange die Geldpolitik nicht Gas gibt.

    Etwas ist faul in der Europäischen Union. Die Vereinigten Staaten schaffen Millionen neuer Jobs, seit Jahren. Und Europa verteilt die weniger werdenden Arbeitsplätze auf mehr Köpfe, setzt auf differenzierte Lohnsenkung, Flexibilisierung und Sozialabbau. Zugegeben, für diesen Weg zu mehr Beschäftigung sprechen einige theoretische Überlegungen und vor allem die einzelwirtschaftliche Erfahrung. Und die Erfolge der amerikanischen Jobmaschine liefern dafür offenbar auch den empirischen Beweis. Sicherlich können Europäer von Amerika viel lernen. Aber lernen wir auch das Richtige für die Lösung unserer Beschäftigungskrise? Vielleicht bedeutet die Annäherung an amerikanische Strukturen noch nicht die Annäherung an amerikanische Beschäftigungsniveaus. Wäre es so, dann hätten wir am Ende amerikanische Verhältnisse und weiterhin eine europäische Massenarbeitslosigkeit.

    Seit 25 Jahren gibt es in Europa keine Vollbeschäftigung mehr. Die Zahl der Arbeitslosen ist inzwischen auf 18 Millionen gestiegen. Vergleichbar ist diese Lage nur noch mit der in der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre. Und wie damals scheint auch die heute herrschende Lehre an dem Punkt angelangt zu sein, wo sie sich Jahr für Jahr in Verheißungen und Erwartungen flüchtet, die mit derselben Regelmäßigkeit enttäuscht werden. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellt in seinem letzten Gutachten fest: "Auch angebotsorientierte Wirtschaftspolitik muß die grundlegenden Kreislaufzusammenhänge der Volkswirtschaft beachten. Aber: Die Führungsrolle wird im Handeln auf der Angebotsseite gesehen, das sich an erwarteter Nachfrage orientiert, eine Erwartung, die sich erfüllt, weil mit der Initiative von Anbietern zugleich Einkommen und Kaufkraft entstehen."

    Jedoch, ist es schon Kreislaufdenken oder noch Tautologie, wenn gesagt wird, daß sich die Erwartung erfüllt, weil, wenn sie sich erfüllt haben wird, sie dann auch erfüllt sein wird? Unerklärt bleibt jedenfalls die zentrale Frage, welches ökonomische Kalkül einen einzelnen Unternehmer dazu bringen könnte, mehr zu investieren.

    Wirkungslos wäre die vom Rat geforderte Umkrempelung ökonomischer und sozialer Bedingungen allerdings nicht. Zumindest würden die Karten neu gemischt und vielfältige Anpassungsprozesse ausgelöst werden. Andere, d.h. im Sinne des Rates gute und verläßliche Rahmenbedingungen lassen erwarten, "daß unter Wettbewerbsbedingungen die zu tragenden Risiken durch Chancen aufgewogen werden." Aber wer will schon sein Geld in Projekte stecken, bei denen die Risiken durch Chancen nur "aufgewogen" werden. Eine Anlage in Staatspapieren mit einer Realverzinsung von fast 5% ist demgegenüber allemal attraktiver.

    Will der Rat also damit sagen, daß "nachhaltige Senkung der Steuerlast", "substantielle Verringerung der Abgabenlast" und Fortführung des in der Lohnpolitik "zuletzt eingeschlagenen moderaten Weges über mehrere Jahre" zwar Gewinnchancen durch Kostensenkung eröffnen, diese aber gleichzeitig durch neue Risiken "aufgewogen" werden, d.h. durch eine geringere Nachfrage wegen der Ausgabensenkung und durch rückläufige Absatzpreise wegen der Kostensenkung?

    Tatsächlich ist es alles andere als evident, daß die mit der unterstellten "Initiative von Anbietern" entstehende zusätzliche Kaufkraft nicht nur größer, sondern auch im Vorlauf zum Einkommens- und Nachfrageausfall ist. Mikroökonomisch fundiert und kreislaufmäßig abgesichert ist diese angebotspolitische Verheißung, das uralte Saysche Theorem, jedenfalls nicht. Deshalb kann das Risiko nicht ausgeschlossen werden, daß die Kostensenkungsstrategie in Mengenanpassungen nach unten und in ein deflationäres Desaster mündet. Doch selbst wenn solche Folgen nicht zu fürchten wären, bliebe immer noch die Frage offen, wie die Initiative von Anbietern ohne kontraproduktive Zinseffekte "finanziert" wird.

    Aus dem Dilemma saldenmechanischer "Gegenbuchungen", wonach jeder expansive Effekt im Kreislaufzusammenhang zugleich und unumgänglich kompensierende Wirkungen hervorruft, können sich Angebotspolitiker nur dadurch befreien, daß sie zusätzliche Nachfrage von außerhalb der Volkswirtschaft ins Spiel bringen. Exportüberschüsse sind die einzigen Hoffnungsträger dieses modernen Merkantilismus. Deshalb die Standortdebatte. Vollbeschäftigung in Euroland kann es nach diesem Ansatz nur geben, wenn außerhalb der Europäischen Union 18 Millionen Arbeitsplätze wegkonkurriert werden. Auf diesen politisch riskanten und ökonomisch absurden Export von Arbeitslosigkeit muß die herrschende Lehre setzen. Darauf läuft der sogenannte Wettbewerb der Ordnungen in einer "globalisierten" Weltwirtschaft hinaus. Anders gesagt, die Neoliberalen haben keine Beschäftigungstheorie für eine geschlossene Wirtschaft und keinen Zugang zu einer Politik der Stärkung der Binnennachfrage. Angebotspolitiker können nur Strukturen ändern. Konsequenterweise erklären sie auch alle Probleme zu Strukturproblemen.

    Die Gründe dafür liegen in der reduktionistischen Sichtweise einer arbeitsteiligen Geldwirtschaft. Wer die Rolle des Geldes auf die der Rechenpfennige reduziert und die langfristige Neutralität des Geldes für eine wirtschaftspolitisch relevante Annahme hält, verstellt sich den Blick auf die monetären Bedingungen für mehr Beschäftigung und hat kein Konzept für eine Mengenkonjunktur mit Wachstumsraten oberhalb der Produktivitätsentwicklung. Ohne zusätzliches Geld müssen die Erwartungen der Angebotspolitiker bezüglich zusätzlicher Investitionen, zusätzlicher Einkommen, zusätzlicher Nachfrage und zusätzlicher Beschäftigung ins Leere gehen.

    Jeder Unternehmer weiß, daß er ohne Finanzierungsmittel von außen, ohne Kredit, keine Chance für eine Expansion hat. Das hausväterliche Ansparen von Finanzmitteln für Investitionen hat noch kein Unternehmen groß gemacht. In ähnlicher Weise gilt das auch für eine Volkswirtschaft. Nur durch exogen bereitgestelltes zusätzliches Geld kann eine Volkswirtschaft wachsen. Und nur durch niedrige Realzinsen kann sie Wachstumsraten realisieren, die über den Produktivitätsfortschritt hinausgehen und die Arbeitslosigkeit abbauen.

    Schumpeter hat das vor fast 90 Jahren den Ökonomen ins Stammbuch geschrieben und auf dieser Basis die bisher immer noch einzige ökonomische Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung formuliert. Der Prozeß der "schöpferischen Zerstörung" setzt "fresh money" voraus, mit dem dann scharenweise auftretende dynamische Unternehmer ihre neuen Kombinationen finanzieren. Angebotspolitik im Schumpeterschen Sinne heißt Angebot von "fresh money", heißt Vorfinanzierung eines von Investitionen getragenen Aufschwungs durch die Zentralbank. Eine potentialorientierte Geldpolitik verhindert das. Sie deckelt die Investitionsdynamik, welche durch die angebotspolitische Strategie gestärkt werden soll. Wer die Führungsrolle auf der Angebotsseite sieht und der Geldpolitik lediglich die Nachfinanzierung beschäftigungswirksamen Wachstums zuweist, vertagt die Überwindung der europäischen Beschäftigungskrise auf den Sanktnimmerleinstag.

    Die monetaristische Geldpolitik folgt einem einfachen Muster: Der reale wirtschaftliche Prozeß wird im wesentlichen gesteuert von relativen Faktorkosten und Güterpreisen sowie den vorhandenen Ressourcen einschließlich des Humankapitals. Langfristig kann die Geldpolitik diesen Prozeß nicht beeinflussen. Kurzfristig aber, das ist die von Ökonomen allgemein vertretene Auffassung, bewirken die Versuche, die Konjunktur durch eine diskretionäre Geldpolitik zu glätten, eher eine Verstärkung der konjunkturellen Ausschläge. Zur Vermeidung dieses Störpotentials und zur Stabilisierung der Erwartungen ist eine klare, vorhersehbare und stetige Ausweitung der Geldversorgung die beste Strategie. Insbesondere den Tarifvertragsparteien soll so ein klares Signal gegeben werden, welche Lohnzuwachsraten monetär alimientiert werden. Diesen Überlegungen ist zuzustimmen. Richtig ist sicherlich auch, daß die stabilitätspolitischen Erfolge der Bundesbank zu einem guten Teil darauf beruhen. Aber wie so oft führt auch hier die "Lösung" eines Problems, also die Verstetigung, geradewegs hinein in neue Schwierigkeiten.

    Die entscheidende geldpolitische Frage jenseits der Verstetigung heißt: Was soll auf welchem Niveau eigentlich verstetigt werden? In den Worten des Sachverständigenrates geht es um die Finanzierung des "spannungsfreien Expansionsspielraum einer Volkswirtschaft in der Zukunft". Für viele Monetaristen in Europa ist der Maßstab dafür die Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials. Wie sieht der "gerade Pfad normaler monetärer Expansion" aus? Was ist das stabile Orientierungsmaß für die Geldversorgung? Wie läßt sich die unbekannte zukünftige Entwicklung statistisch glätten?

    Solche Fragen ähneln in fataler Weise jenen in einer Zentralverwaltungswirtschaft. Die Volkswirte der "Zentralen Planungsbehörde" definieren das reale gesamtwirtschaftliche Plansoll, das Produktionspotential. Die Zentralbank stellt die dafür notwendige Geldversorgung bereit. Allerdings gibt es mindestens einen gewichtigen Unterschied zwischen den zentralen Planern und den "marktwirtschaftlichen" Produktionspotentialrechnern. Marktwirtschaftler haben es mit einem entwicklungsoffenen System zu tun. Wachstum ist in dieser Wirtschaftsordnung das Ergebnis des Zusammenwirkens vieler einzelner Akteure und keinesfalls ein vorab politisch definiertes Ziel. Hierin liegt der Unterschied zwischen Wachstumsprognosen und gesamtwirtschaftlichen Planvorgaben, der durch politikbestimmende Potentialrechnungen für den Expansionsspielraum einer Volkswirtschaft zumindest undeutlich wird.

    Verbunden mit dieser ordnungspolitischen Schieflage ist ein unlösbares(!) erkenntnislogisches Problem. Wie kann die zukünftige Dynamik eines offenen komplexen System abgeschätzt werden? In den Potentialrechnungen wird diese Frage einfach dadurch umgangen, daß der Wachstumstrend der Vergangenheit in das jeweils nächste Jahr ausgezogen wird. Grundlage dafür ist das mögliche Wachstum aus dem potentiellen Arbeitsangebot und dem Kapitalbestand.

    Die das Gesamtkonzept erhellende Aussage der Bundesbank lautet: "Langfristig wird in unserer Rechnung davon ausgegangen, daß sich im Durchschnitt tatsächliche und potentielle gesamtwirtschaftliche Produktion entsprechen." Im Mittel wird also eine 100%ige Potentialauslastung unterstellt. Temporäre Abweichungen zwischen dem potentiellen und dem tatsächlichen Wachstum schlagen sich deshalb nieder in Änderungen des Auslastungsgrades. Sicherlich, diese potentielle Produktion läßt sich "nur indirekt mit Hilfe verschiedener Verfahren schätzen" (Bundesbank). Aber damit nähert man sich keineswegs dem Potential, das bei einer anderen geldpolitischen Strategie hätte entstehen können.

    Beim Schätzverfahren der Bundesbank spielen die Sachkapazitäten (Bruttoanlagevermögen, Anlageinvestitionen der Unternehmen) und das Arbeitsvolumen eine gewichtige Rolle. Im Gegensatz zu früher geht die Bundesbank jetzt richtigerweise davon aus, daß auch die Arbeitslosen zum potentiellen Arbeitsvolumen gerechnet werden müssen. Beim potentiellen Arbeitsangebot wird daher von der Zahl der Erwerbspersonen ausgegangen, die die Erwerbstätigen und die Arbeitslosen umfaßt. Weder wird die "Stille Reserve" dem Erwerbspersonenpotential zugerechnet, noch die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit aus dem Erwerbspersonenpotential herausgerechnet.

    Die Bundesbank rechtfertigt dies mit Abgrenzungsproblemen und der Vermutung, daß beide möglicherweise in der gleichen Größenordnung liegen könnten und "damit ihren Einfluß auf das Arbeitskräftepotential" aufheben. Die Sockelarbeitslosen können deshalb als potentielle Erwerbstätige berücksichtigt werden, weil jene in der "Stillen Reserve" nicht zum Potential gehören. Anders gesagt: Weil es viele gibt, die sich schon gar nicht mehr arbeitslos melden, macht man bei der Potentialrechnung keinen großen Fehler, wenn man die Sockelarbeitslosen, also jene, die offenbar als nicht mehr integrierbar gelten, berücksichtigt.

    Läßt man die in der Tat schwer quantifizierbare "Stille Reserve" außen vor und folgt der Bundesbank, dann ergibt sich für 1994 ein potentielles Arbeitsvolumen im Unternehmenssektor von 42,8 Mrd. Stunden. Dem stand im gleichen Jahr ein tatsächliches Arbeitsvolumen von 38,5 Mrd. Stunden gegenüber. Das entspricht einer Auslastung von 90%. Um eine Normalauslastung des Faktors Arbeit zu erreichen, müßten 11,2 % mehr Arbeitsstunden angeboten werden (nur Westdeutschland).

    Beim Anlagevermögen können solche Divergenzen nicht auftreten, weil die in vielen Jahren der Unterbeschäftigung unterlassenen Investitionen in der Potentialrechnung natürlich nicht berücksichtigt werden können. Abweichungen zwischen der Potentialentwicklung und den tatsächlichen Werten resultieren daher beim Produktionsfaktor Kapital allein aus dem Auslastungsgrad. Das wäre anders, wenn man das Anlagevermögen beispielsweise des Jahres 1972 mit einer zur Vollbeschäftigung passenden Investitionsquote fortschreiben würde. Bei einer solchen Rechnung hätte sich das hypothetische Anlagevermögen ("Normpotential") ebenso wie das Arbeitskräftepotential immer weiter vom tatsächlichen entfernt und würde so den Blick auf die Problematik der Potentialorientierung schärfen. Allerdings folgte daraus noch nicht notwendigerweise eine andere geldpolitische Orientierung. Vermutlich würden die jährlichen Änderungsraten des Potentials in beiden Konzepten ähnlich hoch sein. Solange also die Differenz zwischen dem "Normpotential" und dem wie auch immer berechneten aktuellen Potential geldpolitisch ignoriert wird, muß es bei der Unterauslastung des Faktors Arbeit und dem insgesamt zu niedrigen Anlagevermögen bleiben.

    Die gemeinhin mit dem Potentialkonzept der Bundesbank verbundene Vorstellung, von der Geldseite her werde Raum gegeben für den Weg zur Vollbeschäftigung, ist falsch. Die "Beschäftigungsnorm" der Bundesbank ist der Status quo auf dem Arbeitsmarkt, d.h. das Arbeitsvolumen, das zu einer "Normalauslastung" des nach vielen Jahren der Investitionsschwäche vorhandenen Anlagevermögens paßt. Mehr als das aus der Produktivitätsentwicklung folgende und an die Normalauslastung heranführende Wachstum wird geldpolitisch nicht alimentiert. Für Deutschland heißt das nach aktuellen Schätzungen der Bundesbank für die Jahre 1997 und 1998 ein Potentialwachstum von durchschnittlich 2%.

    Die französische Zentralbank nimmt seit 1994 ein inflationsfreies Wachstumspotential von 2,5% p.a. an. Auch die italienische Zentralbank geht von ähnlichen Größenordnungen aus. Falls sich das so abgeleitete Geldmengenkonzept für Euroland insgesamt durchsetzt und ein Potentialwachstum in der Größenordnung von 2 bis 2 1/2 von der Europäischen Zentralbank unterstellt wird, dann kann es bis auf weiteres in Europa nur ein wirtschaftliches Wachstum geben, das bestenfalls im Rahmen der Produktivitätsentwicklung liegt. Ein solches Wachstum aber ist beschäftigungsneutral.

    Die auf ökonometrischen Stelzen daherkommende Potentialrechnung hat verheerende Folgen. Sie verhindert einerseits einen beschäftigungswirksamen Aufschwung, schreibt aber andererseits beim Anlagevermögen jeden Abschwung in der Potentialrechnung fort. Unproblematisch wäre das, wenn es sich lediglich um akademische Trendschätzungen handeln würde. Aber die Ergebnisse der Potentialrechnungen sind Maßstab für die künftige Geldversorgung, die ihrerseits den Trend determiniert.

    Wenn daher das Potentialwachstum wegen einer schwachen Investitionstätigkeit immer weiter herabgesetzt wird und wir inzwischen bei 2% angelangt sind, dann muß sich das auch in den tatsächlichen Wachstumsraten niederschlagen. Das erklärt, weshalb der Sockel an Arbeitslosigkeit zu Beginn jeder Aufschwungsphase höher ist als bei der vorhergehenden. (Nach Angaben der Bundesbank hat sich das jahresdurchschnittliche Potentialwachstum wie folgt entwickelt: 1963-70: 4,5%; 1971-75: 3,7%; 1976-80: 2,6%; 1982-94: 2,3%.) Die potentialorientierte Geldmengensteuerung verschärft daher systematisch die Beschäftigungskrise, weil sich jeder konjunkturelle Einbruch in einer Absenkung des Potentialtrends niederschlägt.

    Nun könnte man argumentieren, daß ein "stabilitätsgerechtes Geldmengenziel" durchaus genügend Raum für eine reale Expansion läßt und dafür insbesondere die Lohnpolitik verantwortlich sei. Um diese Möglichkeit näher zu beleuchten, sind mehrere Konstellationen zu unterscheiden.

    Bis in die 80er Jahre hinein hat die Bundesbank neben dem Potentialwachstum auch den "unvermeidlichen Preisanstieg" bei der Geldmengenpolitik berücksichtigt. Grob gesagt handelte es sich dabei um einen normativen Abschlag auf die zuletzt beobachtete Inflationsrate. Im Rahmen dieses Konzepts hatten die Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, den nominalen Geldmengenzuwachs real dadurch zu erhöhen, daß sie mit ihren Abschlüssen unterhalb der durch Produktivitäts- und "unvermeidliche" Preisentwicklung vorgezeichneten Linie blieben. Ein Teil der für die "Inflationsfinanzierung" eingeplanten Geldmengenänderung stand somit einer zusätzlichen realen Expansion zur Verfügung. Selbst im Idealfall sind aber einer solchen Aufschwungsfinanzierung Grenzen gesetzt. Der geringe und eher hypothetische Spielraum wird durch die Nullinie bei der Inflationsrate vorgegeben und steht außerdem nur als Einmaleffekt zur Verfügung.

    Spätestens mit der Unterschreitung der von der Bundesbank 1984 eingeführten "Preisnorm" von 2% gibt es auch diesen Spielraum nicht mehr. Abschlüsse unterhalb der Preisnorm zuzüglich der Produktivitätsentwicklung tragen den Keim eines deflationären Potentials in sich und gefährden das Stabilitätsziel der Geldpolitik. Daß wir davon nicht weit entfernt sind, zeigt eine in der Bundesbank erstellte Studie über die Probleme der Inflationsmessung. Dort heißt es: "Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß der systematische 'Fehler' bei der Inflationsmessung in 'normalen' Zeiten insgesamt rund drei Viertel Prozentpunkte pro Jahr beträgt".

    Trotz Preisstabilität ist dem Lohnargument aber noch nicht ganz der Wind aus den Segeln genommen. Neoklassiker fordern jetzt, die Tarifabschlüsse auf mittlere Sicht unterhalb der gemessenen Produktivitätsentwicklung zu halten, weil diese über der "Vollbeschäftigungsproduktivität" liege. Auch dazu könnte die erwähnte Studie aus dem Hause der Bundesbank das Gegenargument liefern. Spiegelbildlich zur "Überschätzung" der Inflationsrate ist nämlich die gemessene Produktivitätsentwicklung um rund drei Viertel Prozentpunkte pro Jahr zu gering ausgewiesen worden. Eine an der gemessenen Produktivitätsentwicklung orientierte Lohnentwicklung berücksichtigt daher implizit bereits die behauptete niedrigere Vollbeschäftigungsproduktivität. Aber wie man auch immer die nominale Lohnentwicklung in Einzelelemente gedanklich aufspalten mag, es führt kein Weg daran vorbei, daß das Ende der Fahnenstange neoklassischer Argumentation erreicht ist, wenn die Lohnstückkosten nicht mehr steigen. Und diesen Punkt haben wir schon vor Jahren erreicht.

    Das Grundproblem einer potentialorientierten Geldmengenpolitik liegt in der Negation der aktiven Rolle des Geldes für die Überwindung der Arbeitslosigkeit und für die wirtschaftliche Entwicklung im ganzen. Aber es ist zunächst nicht einmal notwendig, diese zentrale geldtheoretische Frage aufzuwerfen. Denn bereits im Rahmen des herrschenden Konsenses über die monetaristische Konzeption ist es zwingend, daß das reale Wachstum nicht über die aus dem Potential abgeleitete Vorgabe hinausgehen kann. In den letzten beiden Jahren ihrer Herrschaft über die nationale Geldversorgung hat die Bundesbank eine Ausweitung der Geldmenge (M3) um jeweils 5% vorgesehen. Davon sind ein Prozentpunkt für die abnehmende Geldumlaufgeschwindigkeit und zwei Prozentpunkte für die "Preisnorm" abzuziehen. Ein höheres Wachstum als 2% ist daher nach der eigenen monetaristischen Logik nicht möglich. Im Zweifel deckt es nicht einmal das aus der Produktivitätsentwicklung sich ergebende Wachstum ab. 1997 stieg die gesamtwirtschaftliche Produktivität um 3,9%.

    Gleichwohl, so die Bundesbank, "erscheint die 5%-Marke aus heutiger Sicht eher großzügig bemessen" und die Liquitätsversorgung "eher reichlich". Aber diese Einschätzung bezieht sich allein auf die von der Bank selbst aufgestellten Kriterien. Sie ist denn auch die einzige geldpolitische Rechtfertigung für einen Realzins von annähernd 5% in der katastrophalsten Lage am Arbeitsmarkt seit Anfang der 30er Jahre.

    Aus diesem zur Investitionsschwäche "passenden" monetären Rahmen kann keine Angebotspolitik, keine Steuerreform und kein Ausgabenprogramm ausbrechen. Sie können bestenfalls Strukturen ändern, die Verteilung von unten nach oben beschleunigen und die Aktienkurse weiter nach oben treiben. Eine Trendwende am Arbeitsmarkt ist in solchen Maßnahmen nicht angelegt. Alle angebotspolitischen Verbesserungen an der europäischen Jobmaschine bleiben wirkungslos, solange die monetäre Bremse nicht gelöst wird. Die bloße Fortschreibung des Vergangenheitstrends, d.h. des Ergebnisses der geldpolitischen Restriktion, bedeutet Perpetuierung der Arbeitslosigkeit. Die Europäische Zentralbank wird in der zweiten Hälfte dieses Jahres zu entscheiden haben, ob sie dem Potentialkonzept folgt und damit den Grundstein legt für eine weitere lange Phase des "jobless growth" in Europa.

    Eine Geldmengenexpansion beispielsweise von jährlich rund 15%, wie im Durchschnitt des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders der 50er Jahre, setzt allerdings einen anderen "Abstimmungsprozeß" zwischen Geld- und Lohnpolitik voraus. Das in den letzten 25 Jahren geltende Muster hat im Prinzip dazu geführt, daß die nominale Lohnentwicklung in etwa der Geldmengenentwicklung entsprach. Für beide Politikbereiche waren Produktivitäts- und Preisentwicklung die entscheidenden Determinanten. Der Sachverstand der Volkswirte bei der Zentralbank und den Tarifvertragsparteien konvergierte in Richtung ähnlicher Einschätzungen hinsichtlich der Entwicklung beider Aggregate im jeweils relevanten nächsten Jahr. Ein monetärer Spielraum für einen arbeitsplatzschaffenden Aufschwung konnte nach der Logik dieses "Abstimmungsprozesses" nicht entstehen. Die eher kurzen Aufschwung- und und eher längeren Abschwungphasen waren "lediglich" Folge von temporären Über- und Untertreibungen der Lohnpolitik im Zusammenspiel mit den Schwierigkeiten, die Geldversorgung auf Potentialkurs zu halten.

    Das Lösen der monetären Bremse an der europäischen Jobmaschine reicht allein nicht aus, um genügend Arbeitsplätze in Europa zu schaffen. Notwendig ist es auch, Gas zu geben, d.h. ein höheres Geldmengenwachstums mittelfristig durchzuhalten mit dem Ziel, die kurzfristigen Realzinsen (gemessen an den Erzeugerpreisen) in Euroland in die Nähe von Null zu bringen. Zugleich müssen die Lohnstückkosten auf den jeweiligen (überwiegend nationalen) Arbeitsmärkten stabil gehalten werden. Für die Lohnpolitik in den Mitgliedstaaten der Union bedeutet das, die jeweilige nationale gesamtwirtschaftliche Produktivitätsentwicklung zur Grundlage der Lohnfindungsprozesse zu machen und auf einen Inflationsausgleich solange zu verzichten, bis ein akzeptabler Beschäftigungsstand erreicht ist. Die Tarifabschlüsse in Deutschland würden danach in der Größenordnung des Produktivitätswachstums von zur Zeit 3 bis 4% liegen. Solche Abschlüsse über mehrere Jahre bergen nicht die Gefahr einer Kosteninflation und halten somit der Europäischen Zentralbank den Rücken frei für einen expansiven Kurs, ohne den die europäische Jobmaschine nicht auf Touren kommen kann.