Institute for Advanced
Speculative Knowledge
Geldpolitik

    Die europäische Geldpolitik in der Potentialfalle?
    von
    Gerhard Maier-Rigaud, Bonn
    (in: Wirtschaftsdienst Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Juli 1998, Heft 7, 78. Jahrgang, 433-440)
     
     

    Die Geldpolitik der Bundesbank basiert seit 1974 auf dem Konzept der potentialorientierten Geldmengensteuerung. Dr. Gerhard Maier-Rigaud vertritt die These, daß die potentialorientierte Geldpolitik ihre eigene Bezugsbasis systematisch verkleinert.1 Er sieht im Übergang der geldpo-litischen Kompetenz auf die Europäische Zentralbank für lange Zeit die letzte Chance für einen geldpolitischen Strategiewechsel.
     

    Die Bundesbank hat sich wie kaum eine andere Zentralbank in die Hände einer spezifischen geld-theoretischen Vorstellung begeben und ist somit in der geldtheoretischen Auseinandersetzung Partei. Sie hat ihre Glaubwürdigkeit an das Potentialkonzept gebunden und sieht es als ihr Ver-mächtnis an. Dementsprechend ist der Druck auf die Europäische Zentralbank groß, sich dieses Konzept zu eigen zu machen. Die Glaubwürdigkeit der Bundesbank soll für den geldpolitischen Neuanfang in Europa genutzt werden. Die Übernahme des Potentialkonzepts durch die Europäi-sche Zentralbank ist deshalb weit mehr als eine Frage der geldpolitischen Steuerungstechnik.2 Letztlich geht es um die Durchsetzung geldtheoretischer Vorstellungen und deren quasi institutio-nelle Verankerung in Europa. Denn sobald sich die Europäische Zentralbank für eine potentialori-entierte Geldmengensteuerung entschieden hat, wird auch sie zum Anwalt einer spezifischen geld-politischen Strategie, an der sie allein aus Gründen der Glaubwürdigkeit dogmatisch festhalten muß.

    Die Europäische Zentralbank steht unter verschärfter Beobachtung seitens der Märkte und der Politik. Wie wird sie ihr vorrangiges Ziel, die Preisstabilität zu gewährleisten, mit ihrer beschäfti-gungspolitischen Verantwortung nach EG-Vertrag in Einklang bringen? Das ist in erster Linie eine Frage des unterstellten geldtheoretischen Wirkungszusammenhangs. Aber es ist auch eine des Selbstverständnisses der geldpolitischen Akteure. Folgte man den Überlegungen der Neuen Politi-schen Ökonomie, dann steht die Stabilität des Euro außer Frage. Zentralbanker, die ihren Erfolg ausschließlich an der Preisstabilität messen lassen, wähnen sich auf der sicheren Seite, wenn sie mit dem Hinweis auf latente Inflationsgefahren die Grundlagen für einen permanent restriktiven geld-politischen Kurs schaffen.3 Es gilt, schon den Anschein des Aufbaus eines Inflationspotentials zu vermeiden. Niemand redet denn auch so viel vom Vertrauen wie die Zentralbanker selbst. Je höher sie diese Meßlatte hängen und ihre beschäftigungspolitische Verantwortung negieren, desto größer ist auch die Akzeptanz ihrer geldpolitischen Deckelung wirtschaftlicher Dynamik.4

    Was das für die wirtschaftliche Entwicklung und die europäische Beschäftigungskrise bedeuten würde, zeichnet sich bereits heute ab.5 Finanziert wird ein Wachstum des Produktionspotentials in der Größenordnung von 2 bis 21/2%. Höhere Wachstumsraten sind deshalb auch gar nicht reali-sierbar. Weder neoklassische Angebotspolitik noch „keynesianische" Nachfragesteuerung oder ir-gendeine andere „Wirtschaftspolitik jenseits der Dogmen“6 kann dagegen etwas ausrichten. Die von der Zentralbank gesetzte Finanzierungsschranke ist für alle wirtschaftspolitischen Muster das unüberwindbare Datum. Deshalb ist jetzt eine intensive Auseinandersetzung über die geldpoliti-sche Strategie der Europäischen Zentralbank geboten.

    Vom Geldschleier zum Geldmantel

    In der Humeschen Welt besteht zwischen dem realen wirtschaftlichen Geschehen und der Geldver-sorgung kein Zusammenhang.7 Änderungen der Geldmenge führen nur zu Preisniveauänderun-gen,8 also zu Anpassungen des Walrasianischen „numéraire“. Die für den realen Prozeß entschei-denden relativen Preise bleiben unverändert. Inflation und Deflation sind rein monetäre Phäno-mene. Da sich die Wirtschaft unter der Annahme flexibler Preise jeder Geldversorgung friktionslos anpaßt, ist es bedeutungslos, wie die Geldpolitik den Geldschleier definiert und drapiert. Eine wachsende Volkswirtschaft kann sich auch bei konstanter Geldversorgung über eine real steigende Geldmenge durch sinkende Preise finanzieren. Die Geldpolitik ist erst gefordert, wenn es darum geht, den Geldwert stabil zu halten. Dann ist die Geldmenge nach Maßgabe der realen Entwick-lung zu steuern.

    Die Annahme neutralen Geldes hat heute nur noch eine heuristische Funktion. Konsens besteht nicht nur darüber, daß Geldwertänderungen zu allokativen Verzerrungen führen. Die Erfahrung zeigt auch, daß diskretionäre geldpolitische Maßnahmen wegen der Wirkungsverzögerungen Konjunkturausschläge eher verschärfen können. Unstreitig ist ferner, daß eine Unterversorgung der Volkswirtschaft mit Liquidität reale Entwicklungen restringieren kann. Daraus folgen über die Stabilisierung des Numéraire hinausgehende Anforderungen an die Geldpolitik. Zum Aufgaben-spektrum der Geldpolitik gehört deshalb die Verstetigung der Geldversorgung ebenso wie die Fi-nanzierung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums. Dementsprechend ist das Bild vom Geld-schleier ersetzt worden durch den des Geldmantels.

    Die Mitverantwortung der Geldpolitik für Wachstum und Beschäftigung wird allerdings nicht so verstanden, daß die Zentralbank durch mehr Geld für Wachstum und Beschäftigung sorgen könnte, aber sie kann höhere Wachstumsraten und mehr Beschäftigung verhindern. Es gibt danach also das Risiko eines „zu engen“ Geldmantels. Die Bundesbank hat diesen für sie sensiblen Punkt seit dem Übergang zur jährlichen Festlegung von Geldmengenzielen im Jahre 1974 immer vor-sorglich angesprochen und zu entkräften versucht. Bis zuletzt, d.h. bis 1998, dem letzten Jahr der nationalen Geldpolitik, hat sie deshalb betont, eine Geldversorgung anzustreben, welche die Preis-stabilität sichert und gleichzeitig dafür sorgt, daß „die monetären Voraussetzungen für ein dauer-haftes Wirtschaftswachstum erhalten bleiben“9 Ihr Maßstab für eine hinreichende Geldversorgung der realwirtschaftlichen Entwicklung war das Produktionspotential.10
     

    Verstetigt in die Beschäftigungskrise

    Im Gegensatz etwa zu einer Strategie der direkten Inflationssteuerung ist die Bundesbank-Strate-gie mit einem fundamentalen erkenntnislogischen Problem konfrontiert. Sie muß eine Antwort ge-ben auf die Frage, wie hoch das geldpolitisch zu alimentierende spannungsfreie Wachstum der Wirtschaft ist. Im Kern ist das die nicht beantwortbare Frage nach der Dynamik des offenen kom-plexen Systems Marktwirtschaft. Was also ist das Produktionspotential, dessen Wachstum Bun-desbank und Sachverständigenrat seit vielen Jahren verkünden und aus dessen Normalauslastung die strukturelle Arbeitslosigkeit11 sowie das strukturelle Defizit der öffentlichen Haushalte abge-leitet wird? Basis der Potentialrechnungen ist der Wachstumstrend der Vergangenheit. Angenom-men wird, daß er mit dem potentiellen Wachstum deckungsgleich ist12. Das „spannungsfrei“ zu fi-nanzierende gesamtwirtschaftliche Potentialwachstum ist also schlicht eine Durchschnittsgröße, ein statistisches Konstrukt. Das erkenntnislogische Problem wird somit nicht gelöst, sondern durch die Annahme wegdefiniert, daß die Zukunft so sein wird wie die Vergangenheit.

    Unterstellt wird zusätzlich, daß dieser Trend das Ergebnis einer 100%igen Potentialauslastung ist. Der Vergleich des so ermittelten Potentialwachstums mit den tatsächlichen Jahresdaten zeigt also lediglich Schwankungen des Auslastungsgrades um einen fiktiven Trend. Das deutet vom Ansatz her auf konjunkturelle Fragen. Diese standen auch im Mittelpunkt des Interesses, als das Produk-tionspotential Ende der sechziger Jahre als wirtschaftspolitisches Orientierungsmaß insbesondere vom Sachverständigenrat gefordert worden ist. Die Wirtschaftspolitik insgesamt sollte sich am mittelfristigen Wachstum des Produktionspotentials orientieren.

    Das Ziel war die „Verstetigung der konjunkturellen Entwicklung“13. Dazu muß in Erinnerung ge-rufen werden, daß beispielsweise 1970 die jahresdurchschnittliche Arbeitslosenzahl bei rund 150000 lag, die Arbeitslosenquote 0,65% betrug und es etwa 800000 offene Stellen gab. Eine Strategie der finanz- und geldpolitischen Verstetigung auf Vollbeschäftigungsniveau war denn auch über jeden Zweifel erhaben. Und als nach dem Zusammenbruch des Festkurssystems von Bretton Woods (1973) der Zentralbank die Herrschaft über die nationale Geldversorgung zugefal-len war, schien der Übergang zur potentialorientierten Geldmengensteuerung nur folgerichtig.

    Aus heutiger Sicht drängen sich jedoch erhebliche Zweifel auf. Wie kann eine praktisch bei Voll-beschäftigung startende Verstetigungsstrategie nach einem Vierteljahrhundert in der Massenar-beitslosigkeit münden? Weshalb wird trotz der Massenarbeitslosigkeit die geldpolitische Versteti-gungsphilosophie14 immer noch vertreten? Mit welchen Argumenten können Zentralbank und Sachverständigenrat die Vorstellung stützen, das Produktionspotential würde tatsächlich das span-nungsfrei mögliche Wachstum abbilden? Warum ist die wirtschaftspolitische Diskussion nicht dar-auf gerichtet, wie über einen kräftigen konjunkturellen Aufschwung der Wachstumstrend der Ver-gangenheit ebenso wie die Ergebnisse der Potentialrechnungen obsolet gemacht werden können?
     

    Engpaß Anlagevermögen

    Der Bezug auf den Wachstumstrend der Vergangenheit bietet per se noch keine Antwort auf die Frage nach dem Potentialwachstum im jeweils nächsten Jahr. Wie schaffen es die Potentialrechner, sich um diese wiederum erkenntnislogische Frage herumzumogeln? Der Sachverständigenrat hat darauf bereits 1970 in einer Fußnote geantwortet und die Richtung bis heute vorgegeben: „Die Entwicklung des Produktionspotentials für gegeben zu nehmen, erscheint auf kurze Sicht gerecht-fertigt.“15 Aber wie langfristig ist die kurze Sicht, wenn sie Jahr für Jahr fortgeschrieben wird? Gibt es darauf tatsächlich nicht mehr als den schlichten Hinweis, daß sich das Potential „nur indi-rekt mit Hilfe verschiedener Verfahren schätzen“16 läßt?

    Beim Schätzverfahren der Bundesbank spielen die Sachkapazitäten (Bruttoanlagevermögen, An-lageinvestitionen der Unternehmen) und das Arbeitsvolumen eine gewichtige Rolle. Zum potentiel-len Arbeitsvolumen gehören außer den Erwerbstätigen auch die Arbeitslosen. Weder wird die „Stille Reserve“ dem Erwerbspersonenpotential zugerechnet, noch die sogenannte Sockelarbeits-losigkeit (wie früher) aus dem Erwerbspersonenpotential herausgerechnet.17 Danach ergibt sich beispielsweise für 1994 ein potentielles Arbeitsvolumen im Unternehmenssektor von 42,8 Mrd. Stunden. Dem stand im gleichen Jahr ein tatsächliches Arbeitsvolumen von 38,5 Mrd. Stun-den gegenüber. Das entspricht einer Auslastung von 90%. Um eine Normalauslastung des Faktors Ar-beit zu erreichen, müßten also 11,2% mehr Arbeitsstunden angeboten werden (nur West-deutsch-land).

    Beim Anlagevermögen können derart niedrige Auslastungsniveaus von vornherein nicht auftreten, weil die in vielen Jahren der Unterbeschäftigung unterlassenen Investitionen in der Potentialrech-nung nicht berücksichtigt werden. Daher ist der berechnete Auslastungsgrad des Anlagevermögens systematisch höher als der des Arbeitsvolumens. Beispielsweise wird er für das Jahr 1994 von der Bundesbank mit 98,1% angegeben. Dieser bestimmt nach ihrem Schätzverfahren im wesentlichen das Potentialwachstum und damit auch die Erhöhung der Geldmenge. Einer aus der Unterausla-stung des Arbeitspotentials folgenden kräftigen Erhöhung des Geldangebots zur Finanzierung der notwendigen zusätzlichen Arbeitsplätze steht der geringe Spielraum bei den Sachkapazitäten ent-gegen18.

    Das wäre anders, wenn man das Anlagevermögen beispielsweise des Jahres 1972 mit einer zur Vollbeschäftigung passenden Investitionsquote fortschreiben würde. Bei einer solchen Rechnung hätte sich das hypothetische Anlagevermögen („Normpotential“) in gleicher Weise wie das Ar-beitskräftepotential immer weiter vom tatsächlichen entfernt und würde so den Blick auf die Pro-blematik der Potentialorientierung schärfen. Geldpolitische Konsequenzen folgten daraus noch nicht notwendigerweise, solange die jährlichen Änderungsraten des Potentials – also der gesamt-wirtschaftlichen Produktivität – in der hypothetischen Vollbeschäftigungssituation ähnlich hoch wären wie bei der derzeitigen Unterbeschäftigung. Solange also die Niveauunterschiede zwischen dem „Normpotential“ und dem wie auch immer berechneten aktuellen Potential geldpolitisch ignoriert werden, muß es bei der Unterauslastung des Faktors Arbeit und dem insgesamt zu nied-rigen Anlagevermögen bleiben; eine einmal eingetretene Unterauslastung des Faktors Arbeit wird fortgeschrieben.
     

    Absenkung der Finanzierungsschranke

    Nach dem herrschenden geldtheoretischen Wirkungsmuster kann die Geldpolitik den Wachstums-spielraum begrenzen. Daß dies in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten zeitweise auch der Fall war, ist a priori nicht auszuschließen. Immerhin hat die Bundesbank gegen diesen Vorwurf kaum mehr aufzubieten als den Hinweis auf die Ergebnisse ihrer Potentialrechnungen.19 Diese aber tau-gen gerade dafür nicht. „Das Wirtschaftssystem mag sich noch so sehr destabilisieren, die Ein-kommen mögen noch so sehr sinken und die Arbeitslosigkeit steigen, immer gibt es eine richtige Geldmenge, die zu dieser Entwicklung paßt.“20 Die behauptete Objektivierung der Geldversor-gung ist deshalb nichts weiter als ein Zirkelschluß. Das Fatale daran ist, daß er sich geldpolitisch als Spirale nach unten auswirkt.

    Ursächlich dafür ist nicht nur die systematische Fortschreibung jeder auch nur temporären Investi-tionsschwäche beim Anlagevermögen, sondern auch „vorsichtige“ Interpretationen im einzelnen. Dazu einige Beispiele:
    ? Negativ auf das Potentialwachstum wirken die altersbedingten Abgänge von Anlagen, die in ei-nem günstigeren Investitionsklima angeschafft worden sind.21 Eine Investitionskonjunktur heute trägt danach also bereits den Keim für eine zukünftige Absenkung des Potentialwachs-tums in sich.
    ? Nach der Logik des Potentialkonzepts müßte eine niedrige Kapazitätsauslastung die Wachs-tumsrate des Potentials erhöhen und könnte somit ein gewisses stabilisierendes Moment sein. Aber die Bundesbank schlägt sich auch hier auf die „sichere Seite“ und argumentiert beispiels-weise wie folgt: „Mit dem Konjunktureinbruch 1993 ist die Beanspruchung des Anlagenbestan-des zwar stark zurückgegangen; sie war aber ... nicht weit von einer normalen Nutzung ent-fernt.“22
    ? Absenkungen des Potentials werden auch damit begründet, „daß im Rahmen der im September letzten Jahres vorgelegten Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen die Investi-tionen der jüngeren Vergangenheit etwas herabgesetzt wurden“23. Das ist nicht mehr und nicht weniger als die Anpassung des Potentials an den aktuellen Rand der statistischen Unschärfe.
    ? Die Bank berücksichtigt bei den Potentialschätzungen auch qualitative Aspekte. So heißt es beispielsweise, die Qualität des Sachvermögens im Unternehmensbereich habe „– gemessen am durchschnittlichen Alter – in der Grundtendenz eher abgenommen“24. Das ist bei insgesamt über die Jahre gerechnet sinkenden Wachstumsraten nicht erstaunlich und für die Bundesbank ein weiterer Grund, das Potentialwachstum eher vorsichtig zu schätzen.

    Insgesamt ist festzustellen, daß die Potentialschätzungen im Prinzip asymmetrisch angelegt sind. Potentialerhöhende Momente werden im Vergleich zu potentialsenkenden eher ignoriert. Unpro-blematisch wäre das nur, wenn es sich um akademische Trendschätzungen handeln würde. Aber die Ergebnisse der Potentialrechnungen sind Maßstab für die zukünftige Geldversorgung. Und diese setzt entsprechend der herrschenden „Geldmantelphilosophie“ die Obergrenze des (nominalen) Wachstums. Ein höheres Wachstum ist wegen der aus Potentialschätzungen abgeleite-ten Finanzierungsschranke nicht möglich. Dagegen werden konjunkturelle Abschwünge und re-zessive Entwicklungen zugelassen oder mit der Potentialorientierung jedenfalls nicht verhindert.

    In der Grundtendenz kommt es daher zu sinkenden Wachstumsraten, die nach der Logik der Po-tentialrechnungen zu geldpolitischen Korrekturen nach unten führen. Die Finanzierungsschranke wird weiter abgesenkt und das gesamtwirtschaftliche Wachstum noch mehr gedeckelt. Da auch auf diesem Niveau rezessive Entwicklungen nicht ausgeschlossen werden können, treibt die potentia-lorientierte Geldmengensteuerung die Wirtschaft zwangsläufig immer tiefer in die Krise. So sind wir inzwischen bei einem Potentialwachstum von nur noch 2% angelangt. Und niemand kann aus-schließen, daß nach der geldpolitischen Kappung der derzeitigen Erholungstendenzen eine neuerli-che rezessive Entwicklung das Potential unter 2% drückt.

    Das ist das erklärende Muster dafür, daß der Sockel an Arbeitslosigkeit zu Beginn jeder Auf-schwungphase höher ist als bei der vorhergehenden und die Beschäftigungskrise systematisch ver-schärft wird.25 Die gemeinhin mit dem Potentialkonzept der Bundesbank verbundene Vorstellung, von der Geldseite her werde Raum gegeben für den Weg zur Vollbeschäftigung, kann nur darauf beruhen, daß der „Raum“ an jenen Maßstäben gemessen wird, mit denen er definiert wurde, dem Produktionspotential.
     

    Erhöhung der realen Geldmenge

    Nun könnte man argumentieren, daß ein „stabilitätsgerechtes Geldmengenziel“ durchaus genügend Raum für eine reale Expansion läßt und dafür insbesondere die Lohnpolitik verantwortlich sei. Diese Möglichkeit ist näher zu beleuchten: Bis in die achtziger Jahre hinein hat die Bundesbank neben dem Potentialwachstum auch den „unvermeidlichen Preisanstieg“ bei der Geldmengenpolitik berücksichtigt. Grob gesagt handelte es sich dabei um einen normativen Abschlag auf die zuletzt beobachtete Inflationsrate. Im Rahmen dieses Konzepts hatten die Tarifvertragsparteien die Mög-lichkeit, den nominalen Geldmengenzuwachs real dadurch zu erhöhen, daß sie mit ihren Abschlüs-sen unterhalb der durch Produktivitäts- und „unvermeidliche“ Preisentwicklung vorgezeichneten Linie blieben. Ein Teil der für die „Inflationsfinanzierung“ eingeplanten Geldmengenänderung stand somit einer zusätzlichen realen Expansion zur Verfügung. Selbst im Idealfall sind aber einer solchen Aufschwungfinanzierung Grenzen gesetzt. Der ohnehin geringe und eher hypothetische Spielraum wird durch die Nullinie bei der Inflationsrate vorgegeben und steht außerdem nur als Einmaleffekt zur Verfügung.

    Spätestens mit der Unterschreitung der von der Bundesbank 1984 eingeführten „Preisnorm“ von 2% gibt es auch diesen Spielraum nicht mehr. Abschlüsse unterhalb der Preisnorm – also der als Preisstabilität definierten gemessenen Inflationsrate – zuzüglich der Produktivitätsentwicklung tra-gen den Keim eines deflationären Potentials in sich und gefährden das Stabilitätsziel der Geld-poli-tik. Daß wir davon nicht weit entfernt sind, zeigt eine in der Bundesbank erstellte Studie. Dort heißt es: „Es kann ... nicht ausgeschlossen werden, daß der systematische 'Fehler' bei der Inflati-onsmessung in ,normalen‘ Zeiten insgesamt rund 3/4 Prozentpunkte pro Jahr beträgt.“26

    Der Mehrheit der an der Gemeinschaftsdiagnose beteiligten Forschungsinstitute „erscheint die Ge-fahr eines Deflationsprozesses in der Währungsunion aber gering“. Nach ihrer Ansicht wird sich „über den Anstieg der realen Geldmenge ... schon bald ein Gegengewicht herausbilden“27. Das be-deutet erstens die mehrjährige(!) Hinnahme einer Abweichung vom Stabilitätsziel, zweitens die Annahme eines sich selbst korrigierenden deflationären Prozesses und drittens die Instrumentalisie-rung einer deflationär wirkenden Lohnpolitik für reale Geldmengensteigerungen. Außerdem wird unterstellt, daß die latent deflationären Tendenzen nicht zu einer Destabilisierung der Erwartungen und einer damit einhergehenden Paralyse des geldpolitischen Wirkungsmusters führen. Das ist ins-gesamt viel und zweifelhafte Axiomatik zur Rechtfertigung der neoklassischen Lohnpolitik und der Entlastung der Geldpolitik von der beschäftigungspolitischen Verantwortung.28

    Unter den Wirtschaftsforschungsinstituten gibt es einen Konsens darüber, daß die Erhöhung der realen Geldmenge notwendige Bedingung für mehr Beschäftigung ist. Die Institute dürften wohl auch nicht bestreiten, daß bei konstanten Lohnstückkosten die reale Geldmenge durch eine expan-sive Geldmengenpolitik erhöht werden kann, und zwar ohne deflationäre Risiken.29 Vor diesem Hintergrund macht nun aber die ganze Debatte einen ziemlich artifiziellen Eindruck. Warum ist die wirtschaftswissenschaftliche und wirtschaftspolitische Diskussion ausschließlich fixiert auf den Pa-rameter Lohn? Warum wird die viel naheliegendere, theoretisch weit besser abgesicherte und ver-teilungspolitisch akzeptablere geldpolitische Option ausgeklammert? Dazu mag man je nach indi-viduellem Vorverständnis auf neoliberale Doktrinen bis hin zu neoklassisch vorgeprägten Sicht-weisen verweisen.30 Der Kern jeder Erklärung dürfte aber im Potentialkonzept liegen. Seine „friedenstiftende“ Wirkung31 hat offenbar auch die Wissenschaft erfaßt. Die potentialorientierte Geldmengensteuerung gilt in Deutschland als sakrosankt.32
     

    Vorfinanzierung des Aufschwungs

    In der Schumpeter-Ökonomie wird ein geldtheoretisches Wirkungsmuster postuliert, das mit dem aus der Geldschleier- oder Geldmantelvorstellung folgenden nicht vergleichbar ist. Die Funktion des Geldes ist nicht beschränkt auf die der Rechenpfennige, auf Inflation und Deflation als aus-schließlich monetäre Phänomene und auf die Nachfinanzierung einer realen Expansion.33 Bei Schumpeter ist Geld gewissermaßen auch ein „Produktionsfaktor“, nämlich die treibende Kraft für die Ausweitung des Produktionspotentials bzw. der Produktion. Die Vorfinanzierung des Auf-schwungs durch neugeschaffenes Geld ist die notwendige Bedingung für höheres Wachstum und mehr Beschäftigung. In der Schumpeterschen Terminologie heißt das wie folgt: „Kredit ist we-sentlich Kaufkraftschaffung zum Zwecke ihrer Überlassung an den Unternehmer, nicht aber ein-fach Überlassung vorhandener Kaufkraft – ... – an ihn. Die Kaufkraftschaffung charakterisiert prinzipiell die Methode, nach der sich die wirtschaftliche Entwicklung in der ... Volkswirtschaft durchsetzt. Durch den Kredit wird den Unternehmern der Zugriff zum volkswirtschaftlichen Gü-terstrom eröffnet, ehe sie den normalen Anspruch darauf erworben haben.“34

    In der Schumpeter-Welt verliert das Bild vom Geldschleier ebenso wie das vom Geldmantel seine Bedeutung. Die Geldversorgung kann nicht mehr am Produktionspotential orientiert werden, weil das Potential selbst eine Funktion der Geldversorgung ist. Die Zentralbank trägt danach eine ganz erhebliche Verantwortung für die Überwindung der Wachstumsschw‰che in Europa, die Beschäf-tigung und die wirtschaftliche Entwicklung im ganzen. Damit stellt sich die Frage nach der ange-messenen geldpolitischen Strategie in ganz anderer als der bisher diskutierten Weise. Auch muß das herrschende Verständnis über die wirtschaftspolitische Rollenverteilung revidiert werden, weil die Geldpolitik sinnvollerweise nicht zugleich für Preisniveaustabilität, Wachstum und Beschäfti-gung Verantwortung tragen kann.

    Folgt man Schumpeter und stellt die Verantwortung für einen hohen Beschäftigungsgrad in den Mittelpunkt der Geldpolitik, dann ist das Geldangebot so zu steuern, daß über die Beeinflussung der kurzfristigen Zinsen schließlich auch der langfristige Zins auf ein Niveau heruntergedrückt wird, das die Rentabilität von Finanzanlagen im Vergleich zu arbeitsplatzschaffenden Investitionen deutlich verringert. Nur unter dieser vom Sachverständigenrat vernachlässigten Bedingung erhält die Erwartung eine solide Basis, daß „mit der Initiative von Anbietern zugleich Einkommen und Kaufkraft entstehen“. Und nur unter dieser (monetären) Bedingung werden die „grundlegenden Kreislaufzusammenhänge der Volkswirtschaft“35 beachtet. Ohne Berücksichtigung dieser „Geldangebotsbedingungen“ läuft Angebotspolitik binnenwirtschaftlich nur auf die Überlassung vorhandener Kaufkraft hinaus, d.h. auf ein beschäftigungspolitisches Nullsummenspiel, und au-ßenwirtschaftlich nur auf einen modernen Merkantilismus. Beides ist perspektivlos.
     

    Politik für entpolitisiertes Geld

    Zum Hintergrund der spezifisch deutschen Sorge über die Stabilität des Euro gehört immer noch die Erfahrung einer Hyperinflation in den zwanziger Jahren. Sie hat bereits in der Deflation der dreißiger Jahre eine rechtzeitige vernünftige Politik blockiert.36 Heute scheinen die vermeintlich „unter jedem Kieselstein“ lauernden Inflationspotentiale für eine eindimensionale Geldpolitik in-strumentalisiert zu werden. Und dies obwohl die ökonomischen Realitäten unübersehbar Probleme ganz anderer Art aufwerfen und die institutionellen Vorkehrungen für einen stabilen Euro geschaf-fen sind. Die Finanzpolitik ist in Sachen Geldschöpfung definitiv entmachtet. Die Herrschaft über das Geldangebot liegt allein bei der unabhängigen Europäischen Zentralbank. Wir haben ein „entpolitisiertes“ Geld. Aber das ist kein Freibrief für geldtheoretische Simplifizierung, die Reduk-tion der geldpolitischen Aufgabe auf die Dimension Preisstabilität und für die Orientierung des Geldangebots an einem Potential, das Ergebnis ihrer eigenen Politik ist.

    Der Glaube an die nur noch dogmengeschichtlich interessierende Neutralität des Geldes ist von alledem die Wurzel. Eine Zentralbank, die ihre Glaubwürdigkeit an die Gültigkeit der Neutralitäts-hypothese knüpft, stellt sich nicht nur gegen das Poppersche Falsifikationskriterium, sondern muß sich auch in den normalen Wissenschaftsbetrieb à la Kuhn einreihen, d.h., mit Ad-hoc-Erklärungen ihre Glaubenssätze zu rektifizieren versuchen. Doch aus der Mixtur von politischer Rechtfertigung und geldtheoretischer Simplifizierung kann kein rationaler offener Diskurs folgen. Am Ende bliebe einer Zentralbank nur das „Argument“, man dürfe sich vom Potential nicht lossprechen, weil damit die Orientierung verloren gehe und mit ihr das Vertrauen in die Geldpolitik verspielt werden würde. Die Schaffung von Bedingungen für Prosperität tritt in den Hintergrund zugunsten des Stiftens von Frieden.

    Die Unabhängigkeit der Bundesbank war das institutionelle Vorbild für die Europäische Zentral-bank. Das europäische Unbehagen am eindimensionalen deutschen Verständnis von Geldpolitik37 war ihr Wegbereiter. Es hat die Einführung des Euro politisch beschleunigt. Jetzt kommt es darauf an, die Dimension Preisstabilität um die der Beschäftigung zu ergänzen, wie es der EG-Vertrag fordert. Dazu ist es notwendig, sich von der Neutralitätsannahme zu emanzipieren und differen-ziertere geldtheoretische Wirkungsmuster nicht mehr zu ignorieren. Dann erst wird Geldmengen-steuerung zu Politik im eigentlichen Sinne, zum vorsichtigen Vorantasten und Ausloten der im marktwirtschaftlichen System steckenden Potentiale. Die Federal Reserve Bank macht das mit be-wundernswertem Erfolg vor.38

    Die dritte Dimension betrifft das Zusammenspiel mit der Federal Reserve Bank und der Bank von Japan in der Verantwortung für die Stabilität der Weltwährungsordnung. Die Verabschiedung Eu-ropas von den ökonomischen Wechselbädern durch volatile Wechselkurse muß ihr Verpflich-tung sein, zur Stabilisierung des Verhältnisses von Dollar, Euro und Yen beizutragen. Der Ver-antwor-tung für die Stabilität des Euro, für einen hohen Beschäftigungsstand in Europa und eine krisenfe-ste Weltwährungsordnung kann die Europäische Zentralbank nur dann gerecht werden, wenn sie sich unmißverständlich und für alle Akteure sichtbar der Komplexität ihrer Aufgabe stellt. Daraus entsteht das notwendige Vertrauenspotential, nicht aus Dogmen und simplifizierenden Re-gelme-chanismen. Auch Geldpolitik bedeutet im Sinne Max Webers „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“.
     

    1 Diese These vertrat er an dieser Stelle erstmalig bereits vor 16 Jahren; G. Maier-Rigaud: Die Fiktion vom Produktionspotential, in: WIRTSCHAFTSDIENST, 62. Jg. (1982), H. 7, S. 357 ff.

    2 In einem anderen Kontext ist dem Europäischen Währungsinstitut (EWI) gleichwohl zuzustimmen, wenn es feststellt, daß die Ähnlichkeiten, wie die Zentralbanken die beiden Strategien (direktes Inflationsziel und Geldmengensteuerung) „handbaben“, größer sind als die Unterschiede; vgl. EWI: Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3. Festlegung des Handlungsrahmens, Januar 1997, S. 9.

    3 Neuerdings gibt es wieder Stimmen, dieses „Eigeninteresse“ durch eine erfolgsabhängige Belohnung noch zu verstärken; vgl. H. Feldmann: Stabilitätsanreize für Europas Zentralbanker, in: WIRTSCHAFTSDIENST, 78. Jg. (1998), H. 2, S. 121-128.

    4 Vgl. C.-L. Holtfrerich, G. Maier-Rigaud: Die monetäre Bremse an der europäischen Jobmaschine, in: Handelsblatt, 4. 6. 1998, S. 25.

    5 Nach Schätzungen der Bundesbank wächst das Produktionspotential in den Jahren 1997 und 1998 um durch-schnittlich 2%. Die französische Zentralbank nimmt seit 1994 ein inflationsfreies Wachstumspotential von 2,5% p.a. an. Auch die italienische Zentralbank geht von ähnlichen Größenordnungen aus; vgl. Deutsche Bundesbank: Monatsbericht Januar 1998, S. 38. Das Potentialwachstum der EWU-11-Staaten wird generell auf nicht mehr als 21/2% geschätzt; vgl. beispielsweise H. Lehment: Geldpolitik und lohnpolitischer Verteilungsspielraum in der Eu-ropäischen Währungsunion, in: Die Weltwirtschaft, 1998/1, S. 73 f.

    6 Vgl. W. Franz: Wirtschaftspolitik jenseits der Dogmen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Mai 1998, S. 15.

    7 Vgl. D. Hume: Of Money, in: Eugene E. Miller (Hrsg.): Essays: Moral, Political and Literary, revised edition, Li-berty Classics, Indianapolis 1987 , S. 281-294 (Datum der Erstveröffentlichung 1777).

    8 Der Bundesbankterminologie folgend werden die Begriffe Preisniveau- und Geldwertstabilität als synonym be-trachtet, d.h., es wird in keinem Fall angenommen, daß eine einmal eingetretene Inflation durch eine Deflation korrigiert werden soll.

    9 Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, Januar 1998, S. 17.

    10 Im Vorfeld des Übergangs zur Geldmengensteuerung hat die Bundesbank eigene Potentialberechnungen für den Zeitraum 1962 bis 1972 vorgelegt, „die von der statistischen Fundierung her noch vorläufigen Charakter haben und in der Sache selbst als ein Diskussionsbeitrag gedacht“ waren; vgl. Deutsche Bundesbank: Das Produktionspoten-tial in der Bundesrepublik Deutschland, Mo-natsbericht, Oktober 1973, S. 28. Seit Ende der sechziger Jahre vertritt auch der Sachverständi-genrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (im folgenden Sachver-ständi-genrat) das Potentialkonzept.

    11 Vgl. Frühjahrsgutachten der Forschungsinstitute: Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 1998, zitiert nach DIW Wochenbericht, 20-21/98 vom 15. Mai 1998, S. 363 (Mehrheitsmeinung).

    12 „Langfristig wird in unserer Rechnung davon ausgegangen, daß sich im Durchschnitt tat-sächliche und potenti-elle gesamtwirtschaftliche Produktion entsprechen.“ Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, August 1995, S. 46.

    13 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 1970, Ziff. S. 322 ff.: „Viertes Kapitel: Zu Ele-menten einer potentialorientierten Konjunkturpolitik.“

    14 In seinem Jahresgutachten von 1974 (Ziff. 394) schreibt der Sachverständigenrat: „Wir nennen eine Geldpolitik konjunkturneutral, wenn sie bewirkt, daß die Geldbasis mit einer Rate an-steigt, die dem Wachstum des Produktionspotentials zuzüglich der dauerhaft als unvermeidlich an-zusehenden Inflationsrate entspricht. ... Befindet sich die Wirtschaft in dem Sinne über längere Zeit im Gleichgewicht, daß bei konjunkturgerechter Geldpolitik und Finanzpolitik die Auslastung des Produktionspotentials nur wenig um ihr Optimum schwankt, so sind die Ziele der Preisniveaustabilit‰t und Vollbeschäftigung gleichzeitig und dauerhaft erreicht.“

    15 Sachverständigenrat: Jahresgutachten 1970, Ziff. S. 322, Anm. 1.

    16 Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, August 1995, S. 42.

    17 Die Bundesbank rechtfertigt das mit Abgrenzungsproblemen und der Vermutung, daß beide möglicherweise in der gleichen Größenordnung liegen könnten und „damit ihren Einfluß auf das Arbeitskräftepotential“ aufheben. Die Sockelarbeitslosen können deshalb als potentielle Er-werbstätige berücksichtigt werden, weil jene in der „Stillen Reserve“ nicht zum Potential gehören. Anders gesagt: Weil es viele gibt, die sich schon gar nicht mehr arbeitslos melden, macht man bei der Potentialrechnung keinen großen Fehler, wenn man die Sockelarbeitslosen, also jene, die of-fenbar als nicht mehr integrierbar gelten, berücksichtigt. (vgl. Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, August 1995, S. 48.

    18 Die Substituierbarkeit wird von der Bank selbst als unter Umständen nur begrenzt eingeschätzt (Bundesbank, Monatsbericht August 1995, 55). Vgl. dazu auch die differenzierten Ausführungen des Sachverständigenrates im Jahresgutachten 1997/98, Kasten 7 nach Ziff. 371.

    19 Hilfsweise wird verwiesen auf die niedrigen Zinsen. Dazu nur zwei Zitate aus unterschiedlichen theoretischen "Lagern": (1) "Den Zinsen wird attestiert, daß sie selten niedriger waren, aber real gesehen sind sie ebenso selten höher gewesen, jedenfalls in wirtschaftsschwachen Zeiten." Olaf Sievert, Währungsunion und Beschäftigung, Vor-trag in der Universität Leipzig am 28. Januar 1997, Manuskript, 4; (2) Franco Modigliani forderte in einem Vor-trag die Geldpolitik auf, die Zinsen zu senken, damit investiert und Arbeitsplätze geschaffen werden können. "Es sei nicht seine Aufgabe, sagt der Ökonom, vorauszusagen, auf welches Niveau die Zinsen sinken müßten, damit die Beschäftigung anspringe. Er könne der Bundesbank nur sagen: 'Versucht es, sie zu senken, und wartet, was pas-siert'." R. Hank, Herr Keynes lebt und hat Rezepte gegen die Arbeitslosigkeit, FAZ, 30. April 1998, S.19

    20 G. Maier-Rigaud, Die Fiktion vom Produktionspotential, Wirtschaftsdienst 1982/VII, S.359

    21 Bundesbank, Monatsbericht, August 1995, S.49

    22 Ebenda, S. 50

    23 Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, Januar 1998, S. 19

    24 Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, August 1995, S. 51 (Der „Modernitätsgrad belief sich 1994 auf knapp 59% und war damit um rund 21/2 Prozentpunkte niedriger als 1982“).

    25 Nach Angaben der Bundesbank hat sich das jahresdurchschnittliche Potentialwachstum wie folgt entwickelt: 1963-1970: 4,5%; 1971-1975: 3,7%; 1976-1980: 2,6%; 1982-1994: 2,3%; 1997/1998:2%.

    26 J. Hoffmann, Probleme der Inflationsmessung in Deutschland, Diskussionspapier 1/98, Volkswirtschaftliche For-schungsgruppe der Deutschen Bundesbank, Februar 1998, S.198.

    27 Frühjahrsgutachten der Forschungsinstitute "Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Früh-jahr 1998", zitiert nach DIW Wochenbericht, 20-21/98 vom 15. Mai 1998, S.363

    28 Als eines von vielen Beispielen für den darauf verwendeten ökonomischen Sachverstand sei hier verwiesen auf: Heinrich Maaß/ Friedrich L. Sell, Lohnzurückhaltung, Wechselkurs und Beschäftigung - unter besonderer Berück-sichtigung des Kapitalmarktes und der Handelsstruktur, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 47. Jg., 1/1998, S.78 - 108

    29 Wobei die positiven Beschäftigungswirkungen auch mit Blick auf den Außenhandel wahrscheinlich unterschied-lich eingeschätzt werden.

    30 Vgl. G. Maier-Rigaud, Folgen des Neoliberalismus für Beschäftigung und Umwelt, in Renner, A., Hinterberger, F.(Hrsg.), Zukunftsfähigkeit und Neoliberalismus. Zur Vereinbarkeit von Umweltschutz und Wettbewerbswirtschaft, Baden-Baden 1998, S. 157-174

    31 "Die Bundesbank wünscht sich eine Entscheidung (der EZB, GMR) für das Geldmengenkonzept, ... weil es frie-denstiftend ist; auch wer es ablehnt, der Geldwertstabilität einen absoluten Vorrang vor allen anderen Zielen staat-licher Politik zuzuerkennen, kann die Gewährleistung und Beschränkung einer Geldmengenexpansion auf das Maß des Wachstums der Produktionsmöglichkeiten der Volkswirtschaft als faire allgemeine Regel akzeptieren." Olaf Sievert, Ausführungen auf der Pressekonferenz anläßlich des Jahresberichtes 1997 der LZB Sachsen und Thüringen am 13. Mai 1998, abgedruckt in Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 31, 22. Mai 1998, S.18

    32 Das folgt für die Beamten und Angestellten der Deutschen Bundesbank sogar aus dem Personalstatut. Zur Aus-übung einer schriftstellerischen, wissenschaftlichen oder Vortragstätigkeit über aktuelle Fragen der Währungs- und Kreditpolitik bedürfen sie der vorherigen Genehmigung. Zur Frage der Verfassungskonformität dieses "Maulkorbstatuts" vgl. B. Wilhelm, Die freie Meinung im öffentlichen Dienst, München 1968, S.25ff.

    32 Vgl. zur Vorfinanzierung des Aufschwungs: G. Maier-Rigaud, Der Zins, das Potential und der Aufschwung. Zur geldpolitischen Konzeption des Sachverständigenrates, Wirtschaftsdienst, 1983/I, S.45-50

    34 J. A. Schumpeter (1911), Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin, zitiert nach 4. Auflage von 1934, S.153

    35 SVR, Jahresgutachten 1997, Ziff. 9

    36 Wilhlem Röpke schrieb 1932 dazu: "Wir respektieren die Angst vor der Inflation und teilen sie, wenn es sich auch nur im entferntesten um das handelt, was Deutschland im Jahre 1923 durchgemacht hat. ... Welch blinder und ge-radezu verderblicher Eifer steht hinter dieser abergläubischen Furcht vor der Inflation, wenn doch die einzige Frage, die uns heute beschäftigen sollte, die ist, wie wir aus der Deflation herauskommen!" Krise und Konjunktur, Leipzig 1931, S.122

    37 Vgl. W. Filc, Den Test nicht bestanden. Die Politik der Bundesbank war stets zu einseitig auf die Stabilität der Währung ausgerichtet, Die Zeit, 18. Juni 1998, S.26

    38 "Noch vor fünf Jahren haben die meisten Ökonomen gedacht, bei sechs Prozent Arbeitslosigkeit sei Vollbeschäftigung erreicht. Demnach hätte die Fed den Boom schon vor zwei, drei Jahren beenden müssen. ... Entgegen dem Rat vieler Experten hat die Fed die Geldpolitik nicht scharf angezogen - damit hat Greenspan viel Mut bewiesen, glücklicherweise: Vergangenen Monat hatten wir eine Arbeitslosigkeit von 4,3 Prozent, und die Inflation sinkt immer noch." J. Tobin, in einem Interview mit der Überschrift "Höchst politisch", Wirtschaftswoche, 28.5.1998, 21. In einem Interview der ZEIT vom 28. Mai 1998, 31, sagte er: "Schauen Sie nach Amerika. Dort ist die Arbeitslosigkeit so niedrig, weil wir eine gute und pragmatische Geldpolitik haben. Die achtet nicht nur auf niedrige Inflationsraten, sondern versucht darüber hinaus, die Arbeitslosigkeit gering zu halten, die Nachfrage zu steigern und das Wirtschaftswachstum anzuregen."